Mit einem Koffer für immer…
Ich treffe Frau Yücel an einem sonnigen Herbstmorgen bei einer Tasse Cappuccino.
Mir gegenüber sitzt eine warmherzige Frau und ich spüre sofort, das wird ein gutes Gespräch. Und so ist es.
Frau Yücel erzählt mir zunächst vom Leben ihrer Eltern und ich bin tief beeindruckt. Ihr Vater, von Beruf Konstrukteur, erhält eines Tages in seinem Heimatland, der Türkei, Post des Nürtinger Unternehmens metabo, mit dem Angebot einer Arbeitsstelle in Nürtingen. Der junge Mann ist neugierig auf das Städtchen in Deutschland, besonders das Foto des Freibads, das in dem Prospekt abgebildet ist, beeindruckt ihn sehr und so beschließt er seinen Aufenthalt in Deutschland, zunächst aus reiner Neugier, und auf zwei Jahre begrenzt. Mit nur einem Koffer kommt er eines Tages im Jahr 1962 am Nürtinger Bahnhof an. Doch der junge Mann bleibt in Nürtingen. Er lernt die Sprache, integriert sich schnell und holt schließlich im Jahr 1964 seine in der Türkei geehelichte Ehefrau nach. Auch sie absolviert als Erstes einen Sprachkurs, und so wird auch für sie ein rascher Austausch mit Nachbarn, Kollegen und bald auch Bekannten möglich. Im Jahr 1965 erblickt die gemeinsame Tochter Ahu in Nürtingen das Licht der Welt. Um die junge Familie zu unterstützen, reist die Großmutter aus der Türkei an, um drei Jahre in Nürtingen zu bleiben. Und nun zeigt mir Frau Yücel ein Foto, auf dem ich zwei Frauen sehe. Sie stehen auf der Stadtbrücke. Eine alte Frau in einem schwarzen, knieumspielenden Kleid, die ich nur von hinten sehe, neigt sich in einer liebevollen Geste zu einem Baby hinab, das von einer jungen, hübschen Frau in einem eleganten hellen Kostüm in den Armen gehalten wird. Dieses Baby von damals ist mein heutiges Gegenüber, Frau Yücel, und mit warmer Stimme sagt sie, immer wenn ich über die Nürtinger Stadtbrücke fahre, muss ich daran denken, dass meine Großmutter und meine Mutter mit mir damals hier entlang gegangen sind. Und sie sagt auch, das gibt ihr ein Heimatgefühl. Sie erzählt von den Vermietern, in deren Haus sie lange mit ihren Eltern wohnte und von dem guten Verhältnis, das sie zueinander hatten. Lachend berichtet sie mir vom Erstaunen der schwäbischen Vermieterin, als diese Zeugin wurde, wie ihre Mutter Mais zubereitete, dachten die schwäbischen Vermieter doch bisher, Mais sei ein ausschließliches Nahrungsmittel für Tiere. Noch heute habe sie Kontakt zu den Nachfahren der damaligen Vermieter, die von ihren Eltern in diesen Jahren liebevoll Mama und Papa genannt wurden, die deutsche Mama und der deutsche Papa. Sie erzählt mir von ihrer Mutter, die in der Türkei auf dem Finanzamt gearbeitet habe. Inzwischen hat sie eine Umschulung zur technischen Zeichnerin gemacht und arbeitet nun ebenfalls bei der Firma metabo. Die kleine Ahu besucht den Kindergarten. Die Nachmittage verbringt sie bei einer Familie, die einen Bauernhof betreibt. Gerne erinnert sie sich an die vier Kinder dort, von denen sie perfekt schwäbisch gelernt hat. Doch nicht nur schwäbisch spricht sie perfekt, was auch der Grund für ihre Berufswahl, den der Fremdsprachenkorrespondentin, sein mag. Beim Judo lernt Frau Yücel schließlich ihren Ehemann kennen. Zusammen mit ihren beiden Kindern lebt die Familie heute in Großbettlingen. Beruflich ist Frau Yücel in der Kernzeitenbetreuung der Grundschule in Raidwangen tätig, und als Grüne Dame unterstützt sie ehrenamtlich Patientinnen und Patienten in der medius Klinik in Nürtingen. In Nürtingens City ist Frau Yücel oft anzutreffen. Gerne besucht sie mit ihrem Mann Veranstaltungen in der Stadthalle K3N, auch auf Lesungen und auf den verschiedenen Märkten der Stadt ist sie gerne unterwegs. Als besonderes Highlight empfanden sie und ihre Familie in diesem Sommer den Nürtinger Stadtbalkon. Frau Yücel hat mir viel erzählt an diesem Morgen, hat viele schöne Erinnerungen mit mir geteilt, Anekdoten zum Besten gegeben, die ich gerne alle hier niedergeschrieben hätte. Beeindruckt hat mich die Geschichte eines mutigen jungen Paares, das vor nahezu 60 Jahren den Mut zum Aufbruch in ein fremdes Land fand, und dort – ohne seine eigenen Wurzeln zu vergessen – heimisch wurde.
Beeindruckt hat mich aber auch die Begegnung mit einer ganz besonderen Frau.
Herzlichen Dank dafür!
Ruth Edelmann-Amrhein, Autorenkreis Atmosphäre, VHS Nürtingen / 28.09.2021