Vom Kaff zum Sehnsuchtsort
Als ich jung war – und das ist nun ein halbes Jahrhundert her – war es durchaus nicht ungewöhnlich für ein Mädchen, dass der Herr Papa bestimmte, was das Töchterchen für einen Beruf zu ergreifen hatte: also wurde ich Lehrerin.
Ich wollte aber nicht an einer „normalen“ Schule arbeiten, in der damals bis zu 40 Kinder pro Klasse saßen, die zudem auch samstags noch Unterricht hatten, sondern bewarb mich an der Johannes-Wagner-Schule für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche, in der die Klassen sehr klein waren, und samstags war frei!
Meine soziale Ader war damals noch nicht sehr ausgeprägt, und mein Sinnen und Trachten war einzig darauf gerichtet, ein aufregendes, buntes und bequemes Leben zu führen…
Mein erster Eindruck von Nürtingen war fatal: eine langweilige, unattraktive Kleinstadt.
Damals waren die Dächer noch grau vom Zementwerk, und der Rest schien mir im Einklang damit zu stehen: fürchterliches Kaff, dachte ich!
Ich war in Stuttgart aufgewachsen und hatte mich schon in Reutlingen an der PH wie in der Verbannung gefühlt…
Es sah nicht so aus, als würde ich hier die Vorstellung des Lebens meiner Träume verwirklichen können.
In einer meiner ersten Schulstunden – ich unterrichtete u. A. Religion – fragte mich ein Zweitklässler, ob Gott uns jetzt hören und sehen könne. „Selbstverständlich!“ antwortete ich ihm. Er bohrte weiter: „Kann Gott auch die Leute in Australien hören und sehen?“
„Aber klar – Gott ist allmächtig!“ sagte ich. Er stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus und rief nach kurzer Denkpause: „Mensch, muss der einen großen Kopf haben!“
Drei Dinge wurden mir daraufhin klar:
- – Religion konnte ich auf die Dauer nicht unterrichten, denn es fehlte mir die Fähigkeit, solche Sachverhalte zu erklären
- – dies war genau die richtige Schule für mich
- – weil sich der Beruf der Lehrerin unerwarteter Weise als Traumjob herausstellte, musste ich mich eben mit der langweiligen Stadt Nürtingen abfinden
Inzwischen wohne ich seit mehr als 40 Jahren hier, und die Stadt hat sich unglaublich gewandelt!
Nehmen wir als erstes Beispiel das, was Leib und Seele zusammenhält, und was ich als Katastrophenköchin leidenschaftlich gern tue: Essen gehen. Als ich hierherkam, wusste ich nur von einem einzigen italienischen Restaurant, abgesehen von den altmodischen Viertelesschlotzer-Kneipen, an denen ich als junge Frau nicht interessiert war. Heute gibt es eine Vielzahl von verschiedensten Restaurants, in denen man Gerichte aus aller Herren (nein, ich gendere nicht!) Länder probieren kann.
Es gibt kulturelle Angebote jeglicher Art, und sie bieten für jeden Geschmack etwas: Konzerte und andere musikalische Aufführungen, ob klassisch, ob modern, Theatervorstellungen im K3N, im Theaterkeller, in der Seegrasspinnerei und anderswo. Sportliche Mitmachangebote gibt es zuhauf, für drinnen und draußen. Die Altstadt wurde saniert – dieser Prozess ist offensichtlich auch noch nicht abgeschlossen – und ist ein kleines, aber feines Schmuckstückle geworden.
Die Lage am Fuß der schwäbischen Alb ist ideal für Ausflüge, ohne dass man deshalb auf die Annehmlichkeiten einer Stadt verzichten müsste.
Als Schulstadt ist es auch eine junge, lebendige Stadt, in der die Lebensqualität einen hohen Stellenwert hat.
Nürtingen ist bunter, offener und schöner geworden, und ich liebe es, hier zu wohnen.
Nein, ich bekomme kein Geld für diese Werbung für Nürtingen – und um keinen Preis würde ich von hier wegziehen!!!
Barbara Gommel