„I love Nürtingen“, erklärt Carolina Blanco und ihre dunklen Augen glitzern dabei voller Überzeugung. „Es ist ein Ort, an dem ich mir vorstellen kann, Kinder großzuziehen. Ich mag die Gemeinschaft und das Netzwerk, das die Stadt zu durchziehen scheint.“ Es erinnert sie in dieser Weise an ihre Heimat, Kolumbien. Und ein bisschen an „Heidi“.

Wer jetzt verblüfft zusammenzuckt, sollte wissen, dass sie den größten Teil ihres Erwachsenenlebens in Barcelona verbracht hat. Ein Umzug aus der Innenstadt der spanischen Metropole mit Kulturhighlights und internationalen Restaurants ins vergleichsweise verträumte Nürtingen, eingerahmt von Feldern und Natur – da kann man verstehen, dass sich Carolina an die Idylle in der Geschichte aus den Schweizer Alpen erinnert fühlt, als sie zum ersten Mal hierher kommt.

Was eine Kolumbianerin, wohnhaft und verwurzelt in Barcelona, nach Nürtingen führt? Die Liebe. Dabei dachte sie mit Mitte 30, dass sie angekommen wäre in ihrer Wahlheimat und Traumstadt Barcelona.

Bereits mit fünfzehn weiß sie, dass sie hinaus will in die Welt. Nachdem sie mit 23 Jahren ihr Studium in Kolumbien abschließt, beginnt sie ein Masterstudium in Barcelona und verliebt sich in die Stadt. Carolina bleibt.

Beruflich erfolgreich, unabhängig und glücklich gibt es auch keinen Grund wegzuziehen. Bis aus einer Sommerliebe eine Fernbeziehung wird, und das irgendwann nicht mehr reicht. Zwei Jahre lang treffen sie sich einmal im Monat in Nürtingen oder Barcelona. Dann ist klar, dass sie zusammenziehen wollen. Carolina ist bereit, ihre Wahlheimat aufzugeben, denn Matthias ist als selbständiger Unternehmer an Nürtingen gebunden. Nicht ganz leichten Herzens Arbeit, Freunde und Lebensart zurückzulassen, plant Carolina ihren Umzug für das späte Frühjahr 2020. „Ich liebe Listen! Und ich liebe es, alles genau zu planen“, schmunzelt sie über sich selbst. Doch der harte Lockdown macht alle Pläne zunichte, Planen unmöglich.

Für vier lange Monate können sie sich nicht sehen. Die Ungewissheit, wie lange dieses neue Virus das öffentliche Leben und damit auch ihr privates Glück lahmlegt, macht das Vermissen noch schlimmer. Carolina fängt an zu packen. Kiste für Kiste verschickt sie ihr Leben nach Nürtingen. Und als es im Juli endlich möglich ist zu reisen, schreibt sie: „Matthias, hol mich ab!“ Statt Abschiedsparty und bittersüßen „Leb-wohl“-Momenten, die eine Zäsur im Leben einleiten, verlässt sie leise ihre zweite Heimat.

Etwas Positives bringt die Pandemie jedoch mit sich: Die Selbstverständlichkeit ortsunabhängigen Arbeitens. Froh, dass sie unerwartet ein Stück alte Heimat in die neue retten kann, arbeitet Carolina nach wie vor für ihren Arbeitgeber in Barcelona.

Die Wehmut verschwindet komplett aus ihren Augen, als sie von dem warmen Willkommen und einem wundervollen Sommer hier in Nürtingen berichtet. Zum ersten Mal seit 25 Jahren sitzt sie wieder auf einem Fahrrad. „Es war abenteuerlich und großartig zugleich“, lacht die junge Frau mit dem strahlenden Lächeln. Und das Ausflugsziel, der Beutwangsee, „traumhaft schön!“

Begeistert beschreibt sie Nürtingen und Umgebung, die Menschen, die Freundlichkeit. Aber sie ergänzt, dass der Umzug nicht nur romantische Seiten hatte. Dem Heidi-Effekt steht die Welt im pandemischen Ausnahmezustand gegenüber. Kleinstadt versus Weltmetropole. Das ungewohnte Leben zu zweit. Eine fremde Kultur. Eine unbekannte Sprache.

Vor allem Letzteres sieht sie als ihre große Herausforderung, der sie sich bereits entschlossen stellt. Denn eines weiß Carolina Blanco sicher: „Hier möchte ich alt werden.“ Deshalb hat sie ein weiteres Ziel klar vor Augen: Sie möchte stärker in Nürtingen eingebunden sein. „Aber das passiert nicht von allein, dazu muss man sich bewegen.“ Ideen hat die sympathische Latina, und wir dürfen gespannt sein, davon zu hören.

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