Nürtingen am Neckar, meine Schicksalsstadt!
Nürtingen, kurz vor der Adventszeit im Jahr 1979. Mir ist kalt, ich friere vor lauter Aufregung
und Angst vor der Zukunft. Was erwartet uns, mich mit meiner Familie, meinen kleinen Kindern?
Wie sind die Menschen hier in Deutschland? Wie sollen wir sie begegnen? Was hält unser Schicksal
für uns bereit? Das Positive war – wir hatten damals keine Zweifel unser altes Leben hinter uns zu lassen. Ganz bewusst entschieden wir uns für die Freiheit, zurück in das Land unserer Vorfahren.
Meine Vorfahren haben ihr Heimatland Preußen in Richtung Russland 1823 verlassen. Sie wollten in einem Land leben wo Frieden herrscht. Denn die Folgen des Napoleon-Krieges in Europa waren verheerend! Meine Vorfahren waren Protestanten Mennonitischen Glaubens, deswegen lehnten sie Gewalt und Gebrauch einer Waffe nach dem 5. Gebot „Du sollst nicht töten!“ ab. Das große Desaster aber begann dann mit dem Aufstieg der Kommunisten im russischen Reich. Der Frieden war dahin.
Nürtingen habe ich sofort in mein Herz geschlossen. Ich liebe diese ruhige Stadt am Neckar! Im Sommer schmücken überall Blumen die Innenstadt. Da meine Arbeitsstelle in der Innenstadt lag, konnte ich meine Mittagspause gut genießen. Ich schlenderte oft durch die Einkaufspassagen und berauschte mich vom umgebenden Flair. Kaufte mir öfter mal beim Kaffee-Zimmermann ein leckeres Vanilleeis und erfreute mich den Sachen in Schaufenstern. Oft denke ich zurück an die schöne
Weihnachtszeit. Die Innenstadt ganz versunken im bunten Licht! Und der Weihnachtsmarkt war zauber-haft! Es duftete nach gerösteten Mandeln und die Schokoladenäpfel riefen: „Kauf mich, iss mich, ich bin lecker!“ Überall sah man glückliche lächelnde Gesichter. Menschen versprühten geradezu tiefe Glückseligkeit und Dankbarkeit. Die meisten Arbeitnehmer bekamen früher 13. Gehalt oder Weihnachtsgeld. Mein Chef war in dieser Hinsicht sehr großzügig! Ich persönlich verdanke ihm sehr viel – er vertraute mir voll und ganz, das erfüllte mich mit Stolz und ich versuchte ihn nicht zu enttäuschen. Das Büro-Team nahm mich unter ihre Fittiche, und so konnte ich mich voll entfalten.
Nach und nach erfuhr ich, wie bedeutend doch unsere Stadt am Neckar ist. Sie ist eine Industriestadt, d. h. es gibt genug Arbeitsplätze und Steuereinnahmen! Sehr früh gründete man hier eine Hochschule für Wirtschaft und Umwelt, in der Johannes Knecht Direktor und Gerhard Knecht Hochschul-lehrer waren. Nürtingen ist eine Stadt der Dichter und Denker! Sie schmückt sich mit solchen berühmten Persönlichkeiten wie Friedrich Hölderlin, Friedrich Schelling, Eduard Mörike, Gustav von Rümelin, Guido Wolf (CDU-Politiker) und vielen anderen. Und wer kennt den Maler und Bildhauer Fritz Ruoff nicht, und den Schauspieler und Kabarettist Harald Schmidt, der das Nürtinger Hölderlingymnasium besucht hat?
Nürtingen ist grün – eine grüne Stadt am Fluss! Ihre Kirchen, die Stadthalle, die alten Kastanien-bäume, der Ochsenbrunnen am Schillerplatz und vieles mehr sind ihr Herzstück. Mich, meine Familie hat es gleich in das Stadtteil Roßdorf verschlagen. Ihm habe ich sogar ein kleines Gedicht gewidmet:
Ein kleiner Fleck auf dem Berg mit Straßen und Pfaden,
Reihenhäusern und Bungalows mit schönen Fassaden.
Hochhäuser ragen wie Türme, zeigen ihre Präsenz,
und die Waldluft verleiht den Bewohnern ihre Essenz.
Spirituelle Hingabe empfinden manche Menschen am See,
man spürt dort den Waldgeist und sogar eine Fee.
Der Wald, so schön und erhaben, wohltuend und still
wird zum Seelenheiler, wenn man es will!
23 glückliche Jahre verbrachten wir in einem sehr schönen Haus in Oberboihingen. Geprägt sind wir aber von der Stadt Nürtingen und vom grünen Stadtteil Roßdorf. Ein ehrendes Andenken gebührt dem ehem. Bürgermeister Hans Möhrle, der eine treibende Kraft für das Großbauprojekt des Stadtteils Roßdorf war. Mit einem guten Gefühl ziehe ich eine positive Bilanz. Die Stadt Nürtingen am Neckar hat ihre Flügel über uns ausgebreitet wie ein Schutzengel. Hat uns gegeben jedem was er braucht. Man muss nicht unbedingt reich sein um auf dieser Welt „Jemand“ zu sein. Eine Erkenntnis zum Möglichen und Unmöglichen reicht oft aus, um das Leben gelingen zu lassen und dabei glücklich zu werden.
Elsa Neufeld