Vor 78 Jahren bin ich hier, in Nürtingen geboren, noch im Krankenhaus beim alten Friedhof. (Später zog die Psychiatrische Abteilung ein). Die Patienten konnten vor der Operation einen Blick auf die Gräber der Ahnen werfen und wurden daran erinnert, dass alle nur ein Glied der langen Kette des Lebens darstellen.
Seit einem Jahr führt mich mein Weg oft auf den Waldfriedhof, er ist mir eine Art Heimat geworden. Hier ist der Wechsel der Jahreszeiten intensiv erlebbar. Vom Knospen der Büsche und Bäume, den ersten Schneeglöckchen auf den Gräbern, den Krokussen in den Schalen. Das Laubdach wird dichter, im Unterholz gedeihen die Gräser und Farne, Vogelruf erklingt ringsumher. Wenn ich auf dem Bänkchen sitze, ziehen die Gesichter und Gestalten der Verstorbenen vorbei. Hier ruhen unter monumentalen Grabsteinen die Eltern des Arztes, die Patriarchen aus Maschinenbau, metallverarbeitender Industrie, der Zeitungsherausgeber. Dann sehr individuell gestaltete Grabsteine, denen man die osteuropäische Abstammung ansieht. Sie glänzen mit poliertem Marmor, mit Strasssteinen, mit Fotografien der Verstorbenen. Die Namen derer, die ich persönlich gekannt habe, werden jährlich zahlreicher: der Lehrer, die Ärztin, die Fabrikantenfamilie, der Steinmetz. Das Alter der Toten macht betroffen. So viele sind jünger als ich: der Freund meines Sohnes, 23, der Lehrer meiner Tochter, 49, die Tennisfreundin zwei Monate nach ihrem Ehemann. Welche Schicksale verbergen sich dahinter. Das Gedenken wird wachgehalten durch kunstvoll behauene Steine, einfache Holzkreuze, klobige Findlinge, flache Platten, ragende Monumente. Die Grabstellen sind geschmückt mit Blumen und Büschen, jahreszeitlich wechselnd.
Erschütternd die Reihen der Kindergräber- in jungen Jahren oder wenigen Monaten haben die Eltern ihr Kind verloren. Spielzeug und bunte Steine schmücken die kleinen Gräber.
Die Bestattungsarten haben sich geändert: kleine flache Steinkissen, mit Namen versehen, liegen rings um einen stattlichen Baum. Auf einzelnen Stelen stehen die Namen, der in der Urne beigesetzten. Anonyme Gräber, namenlos in der Stille des Waldes.
Immer größer sind die entstehenden Lücken in den Reihen, kaum, dass sie von den Neuankömmlingen aufgefüllt werden. Oft sind die Verblichenen ohne Nachkommen oder die Kinder wohnen weit entfernt. Die finanzielle Last ist nicht unerheblich, die Liegedauer beträgt zwischen 10 und 25 Jahren. Noch eine Weile werde ich mich an die vertrauten Familien erinnern, werde darüber sinnieren, den Vögeln lauschen, ehe mein Name auf dem bereitstehenden Grabstein dazugeschrieben wird.
Helga Bosch