Raimund Ostermann
„Ich komme vom Nordwesten in den Südwesten“, so der gebürtige Cloppenburger. Seit nunmehr 35 Jahren lebt der agile 68jährige in Nürtingen. 1973 hat es den Gärtnersohn, die Eltern betrieben eine Friedhofsgärtnerei in Cloppenburg, nach dem Abitur ohne einen Euro in der Tasche und ohne jegliche Unterstützung nach Tübingen verschlagen. Dorthin wollte er wegen Ernst Bloch. Zu seiner eigenen Überraschung bekam er eine Zulassung für das Philosophie-Studium. Studiert hat der präsente und redegewandte Nürtinger Bürger schlussendlich Sozialpädagogik und Psychologie mit dem Schwerpunkt Volkskunde.
Er komme aus einem bildungsfernen Haushalt, wo es kein Buch gab, sagt Ostermann, und er sei bis heute der Einzige in der Familie, der studieren konnte. Nach norddeutschem Erbrecht hätte er eigentlich Gärtner werden sollen. Gesundheitliche Gründe führten jedoch dazu, dass sein Bruder die Gärtnerei übernahm und er Eintauchen konnte in „eine völlig fremde Welt“, zum Studieren, dem Plattdeutsch zu entwachsen und die für ihn damals fremde Sprache `Hochdeutsch´ zu lernen.
Von seinen zahlreichen Zugfahrten gen Tübingen kannte er die Nürtinger Stadtkirche, die vom Zementwerk damals noch weißen Dächer, dabei niemand weit und breit auf der Straße. Seine damalige Lebensgefährtin studierte in Nürtingen der 1970er Jahre Kunsttherapie. Prägend bleibt die erste Wohnung am Lerchenberg in Erinnerung. Er selbst fand einen Job in der Reutlinger diakonischen Gustav Werner Stiftung. Die Stiftung stand dafür, psychiatrische Erkrankungen anders zu definieren in einer Zeit der Antipsychiatriebewegung.
Das kam seinen Neigungen sehr entgegen, da ihm Kunst und Psychiatrie starke Lebenskräfte waren und zur Lebensaufgabe wurden. Er empfindet es als Glück in den 1968/70er Jahren groß geworden zu sein. Gute Kunstlehrer prägten ihn und durch „Freunde der Kunst“ kam er zum ersten Mal mit Theater und klassischer Musik in Berührung. Die damalige Nürtinger Kunstszene war eine prägende Zeit voller Aufbruch und Impulse für ihn und er hat in studentischen Kreisen viele „tolle Leute“ kennengelernt. So waren die Begegnungen mit dem kunstliebenden Fachärzte-Ehepaar Domnick bedeutend für ihn und er verstand sich gut mit dem Künstlerpaar Türk.
Ostermann, der seit einem dreiviertel Jahr nur mit Telefon und AB lebt, empfindet es als Privileg nicht immer erreichbar zu sein. Er, ganz Umweltaktivist, lebt ohne Auto und E-bike. Er hat sich immer gesellschaftlich engagiert und an vielen Initiativen beteiligt. So war er Mitbegründer der `Nürtinger Carsharing´, engagierte sich am Aufbau des Kunstseminars in Metzingen und er hat das `Kintop´ in Nürtingen auf den Weg gebracht, Vorgänger der späteren `ABC Lichtspiele´, heute das Kino ´Traumpalast´.
Ostermann musste sich seine Heimat bauen und er hat sie in Nürtingen gefunden. Für ihn ist Heimat, wo man sich wohl fühlt und wo man „unentfremdet“ leben kann.
Befragt und notiert von Helga Wick, Copyright 2021. Alle Rechte beim Autor.